Freitag, November 16, 2007

pisa

Ich hab ja schon darüber geschrieben - irgendwann.
Über die Zwänge.
Aber da ich derzeit nicht weiß, wo mir der Kopf steht, und mir sonst nichts einfällt, worüber ich schreiben könnte, schreibe ich heute wiederum über Zwänge. Der Kopf steht ja nicht. Er sitzt. Meiner sitzt zwar noch, aber ich weiß nicht genau wo und wie er sitzt.
Ich weiß nicht, ob er noch richtig sitzt.
Er sitzt irgendwie schief oder verdreht.
Wegen des Haufens. Des großen Haufens in meinem Kopf. Der Haufen ist so groß wie ein durchschnittlicher Misthaufen eines Nebenerwerbsbauern.
Dazu kommt noch, dass überall Schnee liegt. Vor und hinter dem Haus, auf meinem Balkon. In meinem Kopf.
Dazu kommt noch, dass die Klassenräume überhitzt sind. Und die Schüler auch und deren Kopf und ich auch und auch mein Kopf.
Und weil ich das alles gerade nicht ändern kann, ist mein Kopf schief und verdreht und heiß und innen ganz durcheinander.
Und weil ich derzeit nicht weiß, wo mir der Kopf steht oder sitzt, geht es wieder um Zwänge.
Ich bin drauf gekommen, dass meine Zwänge gar nicht so schlimm sind, wie ich immer glaubte.
Meine ehemalige Kollegin, die Iris, die machte mich wahnsinnig. Mit der Iris ging ich manchmal nach der Schule essen zum Sonnhof.
Die Iris, die aß alles, was sie auf dem Teller hatte, der Größe nach.
Das war was.
Sie begann mit dem Kleinsten. Bei Schnitzel und drei Erdäpfel auf dem Teller war das ja einfach. Da ging das ganz flott.
Aber wenn es Reisfleisch gab, dann war das eine Katastrophe. Es dauerte schon ziemlich lang, bis die die Fleischstückerl der Größe nach sortiert hatte. Dann musste sie die noch essen. Aber dann fing es erst richtig an.
Die Reiskörner.
Nein, die Reiskörner sind nicht gleich groß. Das glaubt nur einer, der sich damit niemals mit Reiskorngrößen beschäftigt hat.
Und dann kommt noch dazu, dass die Reiskörner ja auch zusammen kleben. Jedenfalls kam an den Tagen, an denen es im Sonnhof Reisfleisch gab, die Iris nicht vor zehn Uhr abends vom Sonnhof raus.
Als ich ein Kind war und die Iris noch nicht meine Kollegin war und ich sie auch noch nicht kannte, hatte ich den Gehsteigritzen-Zwang. Das ist kein besonderer Zwang. Den Zwang haben viele Kinder.
Zusätzlich hatte ich noch den Schritte-zählen-Zwang. Ich musste jeden Tag auf dem Heimweg von der Schule mit derselben Anzahl von Schritten mein Elternhaus erreichen. Manchmal war ich noch zwanzig Meter vom Haus entfernt und hatte nur mehr drei Schritte. Dann musste ich wieder zurück laufen. Und ich musste darauf achten, dass mich meine Mutter nicht erwischte. Weil wenn das passierte, war mein ganzer Plan beim Teufel. Wenn ich beim Weg in die Schule die richtige Zahl erwischte, dann durfte ich zur Belohnung ohne zu zählen nach Hause laufen.
Daheim ging es dann weiter. Daheim ging es erst richtig los. Da ging es um den Weltrekord. Um den Zwei-Schritte-die-Treppe-hinauf-Weltrekord. Ich schaffte das nicht. Also probierte ich den Zwei-Schritte-die-Treppe-hinunter-Weltrekord.
Den schaffte ich. Ich landete im Elektrokasten, der gegenüber der Kellertür war. Abends ging es weiter.
Ich war im Bett, Mama gab mir ein Gutenachtbussi, ging hinaus und schloss die Tür. Dann ging es los.
Das war der Mörder-such-Zwang.
Unter das Bett schauen. In den Kasten schauen. Hinter den Vorhang schauen. Unter den Kopfpolster schauen. Unter die Bettdecke schauen. Wieder ins Bett gehen. Kopf unter die Tuchent stecken und verkriechen.
Die Tuchent war das Allerwichtigste. Die Tuchent war meine Rüstung. Die Tuchent beschützte mich vor allem und allen. An Weihnachten denken. Einschla…...
Hab ich die Tür kontrolliert? Hab ich unters Bett geschaut?
Ich muss noch einmal alles kontrollieren. Ich muss!
Weil heute gerade könnte er da sein. Heute Nacht wartet er. Mit dem Messer. Unter dem Bett. Und von unten ersticht er mich. Durch die Matratze hindurch.
Ich muss das überprüfen.
Zur Sicherheit.
Und erst wenn ich alles wiederum ordentlich kontrolliert hatte, konnte ich schlafen. Manchmal hörte ich den Mörder flüstern. Mit dem Mörder Nummer zwei flüsterte der.
Sie ist zu klug für mich. Sie überlistet mich jede Nacht. Aber irgendwann vergisst sie, alles zu kontrollieren. Irgendwann vergisst sie, sich zu verkriechen. Dann ist es aus mit ihr. Dann habe ich sie.
Aber ich wusste, dass er mich nie erwischen würde. Bis zum heutigen Tag hat er mich nicht erwischt. Ich bin zu klug für meinen Mörder.
Klar – ich bin ja viel erfahrener und klüger heute. Solchen Unsinn mache ich nicht mehr.
Ich schaue noch immer unters Bett. Aber da ist nie ein Mörder. Da liegt höchstens der Lurch.
Eine kleine Schwäche habe ich noch.
Dinge müssen gerade hängen. Bilder zum Beispiel.
Oder Linien, die senkrecht sein sollen, müssen auch senkrecht sein. Das stört mich, wenn die nicht senkrecht sind.
Unlängst redete ich mit Steffi. Und da sah ich im Augenwinkel, dass ein Baum schief war. Sehr schief. Total schief. Ich hielt das nicht aus. Ich musste meinen Kopf schief halten. Mir wär sonst schlecht geworden.
Steffi hörte auf zu reden.
Dann fragte sie: Amadea, was hast du denn? Wieso hältst du den Kopf schief?
Wegen des Baumes. Der ist schief. Ich halte das nicht aus.
Du hältst den schiefen Baum nicht aus, spinnst du? Du hörst mir ja gar nicht zu. Ich habe dir gerade erzählt, dass ich mich von meinem Mann trennen will. Und du schaust auf den Baum?
Entschuldige, Steffi. Das wollte ich nicht. Wieso willst du dich trennen?
Das habe ich dir gerade gesagt.
Ich ignorierte die Antwort und redete weiter: Wenn du dich noch vor Ostern trennst, dann fahren wir in der Karwoche nach Italien. Was meinst?
Vielleicht. Mal sehen. Und wo würden wir hinfahren?
Das ist mir egal. Irgendwo hin. Halt nicht nach Pisa.

7 Kommentare:

JMH hat gesagt…

I think you're crazy in a good way.

Anonym hat gesagt…

vielleicht sollte die iris mal bei pisa hirse essen. könnte sein, da würde sich was bewegen.

Anonym hat gesagt…

(wer redet denn von träumen?)

(aber wenn, dann du auch, ja.)

Zechbauer hat gesagt…

Ich hab den Tempo-Zwang (Tempo = Papiertaschentuchmarke]. Ohne Tempos geh' ich nirgends hin. Nirgends! Ich stell' mir dann vor, wie ich ausgerechnet kein Tempo bei mir habe, wenn ich richtig (richtig!) nießen muss. Oh Gott! Der ganze Schnodder fliegt rum, hängt mir unter der Nase, auf meinen Händen, und kein Tempo zur Hand.

Es gibt sogar ein Kinderbild von mir, wie ich in Österreich über eine Wiese stolpere - mit einer riesigen Tempo-Packung in meiner Hand! Klassisches Kindheitstrauma, glaub' ich. So riesig war die eigentlich gar nicht - ich war nur viel kleiner.

Anonym hat gesagt…

Was, bitte, ist ein Tuchent?

Anonym hat gesagt…

den zwang, meine schritte zu zählen, brech ich heute noch gelegentlich ab, bei 19. ist also kein echter zwang. oder doch nur ein 19-schritte-zählen-zwang. eher nebenzwänglich.

amadea's world hat gesagt…

jmh - You might be right. My neighbour, the flight attendant, recently said - we sometimes go out together - you are crazy, but in a nice way. It is a compliment, I think. Who wants to be too normal?

schneck, was heißt hirse auf italienisch?

ich auch, roman ;-)

Ich habe wunderbare Kindheitserinnerungen an Taschentücher. Oma gab mir jedes Mal ein frisches Stofftaschentuch mit, wenn ich in den Kindergarten ging. Und ein Tempo war etwas besonderes. Ein Papiertaschentuch! Und es roch sooooo gut.

sumuze - Ein Federbett. Eiderdaune, sagt ihr, oder?

Manchmal zähle ich auch noch, 500. Das Geld in meiner Geldbörse. Und weit komm ich da auch nie.