Donnerstag, Jänner 18, 2007

in der stille der nacht


„Willi, Willi, da kommst her!“ Die Haustür knallt zu.
Es ist Nacht. Die Tür zu meinem Balkon ist offen. Meine Wohnung ist dunkel. Nur im Bad brennt Licht.
Ich bin dabei, ins Bett zu gehen.
„Willi, da kommst her, komm sofort her, du Sauvieh!“
Das Haus gegenüber ist hell erleuchtet. Ein Mann schreit. Er ist aufgebracht. Er schreit und ruft nach seinem Hund.
Der Hund ist irgendwo. Läuft weg. Der Mann hinterher.
Er wohnt gegenüber. Im obersten Stock. Ich sehe ihn manchmal. Er grüßt immer freundlich.
Ich glaube, er ist Arzt.
Ich schleiche auf den Balkon, drücke mich in die Ecke.
Der Mann flucht und schreit und flucht.
Der Hund ist hinter der Hausecke verschwunden. Ein golden Retriever.
Ich will schon hineingehen, da sehe ich, wie der Hund wieder auftaucht, hinter ihm der Mann. Er schreit wie wahnsinnig. Ich bekomme Angst. Es ist so, als ob er mit mir schreien würde. Ich drücke mich weiter in die dunkle Ecke. Irgendwie habe ich Angst, er könnte mich sehen. Ich fühle mich eigenartig hier auf dem Balkon als heimliche Beobachterin. So, als ob ich ein Verbrechen beobachten würde. Irgendwie schuldig. Ich weiß, ich müsste aus der Dunkelheit heraustreten, mich zu erkennen geben, dem Mann zurufen, dass ich ihn sehe, dass ich ihn beobachte. Der Hund läuft hin und her, vor und zurück. Er ist aufgebracht, aufgeregt, nervös. Ich höre sein Keuchen, spüre seine Angst. Ich höre das Keuchen des Mannes, spüre seine Wut. Nun hat er ihn eingeholt. Er packt den Hund. Packt ihn am Hals. Und er holt aus mit der Leine. Schlägt ihn. Mehrmals. Auf den Rücken. Auf den Kopf. Der Hund jault. Mein Herz klopft laut. Es ist, als würde ich geschlagen. Mir ist schlecht. Tränen steigen mir in die Augen. Wenn mich der Mann nun entdeckt, dann schlägt er mich auch. Ich spüre die Schläge. Ich habe Angst.
Der Mann packt den Hund fester. Schlägt ihn wieder. „Nie wieder lass ich dich ohne Leine raus. Nie wieder, du blödes Vieh!“ Der Hund weint. Endlich kann er sich losreißen. Er ist außer sich, aufgebracht, verstört, wütend. Er läuft, er keucht, er wälzt sich am Boden. Er läuft bis zum Ende der Straße und verschwindet.
„Lauf weg, weit weg“, flüstere ich. Lauf einfach. Irgendwo hin. Nur weg!“
Der Mann schreit wieder. Läuft die Straße entlang, dem Hund nach. Schreit seinen Namen, brüllt, keucht. Ich habe noch immer Angst. Ich zittere. Ich kann diese Angst nicht einordnen. Es scheint mir, als habe ich so noch niemals gefühlt. Das erste Mal, dass ich so etwas erlebe. Das erste Mal, dass ich sehe, dass jemand vor mir ein anderes Lebewesen schlägt. Ich fühle ich mich als Mitwisserin, schuldig und feig. Zu feig, ihn zur Rede zu stellen, zu feig, ihm zuzurufen, er solle das unterlassen, zu feig, ihm zu drohen, ihn anzuzeigen. Ich stehe nur da in der Ecke, zittere und schaue zu. Wie eine Voyeurin.
Plötzlich ist der Hund wieder da.
Wieso ist er nun wieder hier? Wieso ist er nicht weggelaufen. Weit weg, irgendwo hin.Er saust vorbei am Mann. Nun ist er ganz nah. Ich ducke mich. Ich sehe, wie der Mann immer näher kommt. Der Hund ist orientierungslos, wälzt sich am Boden, schlägt Haken so wie ein Hase, wartet, starrt den Mann an, springt wieder auf, saust weg, wieder zurück, keucht, weint, jault. Nun ist der Mann bei ihm. Direkt unter meinem Balkon sind sie. Nun hat mich der Mann gesehen. Ich spüre es. Seine Stimme ist ruhiger geworden. Er schreit nicht mehr. Mein Herz klopft bis zum Hals. Er dreht mir den Rücken zu. Kurz. Da schlüpfe ich schnell in meine Wohnung.
Ich mache die Tür zu bis auf einen Spalt und spähe hinaus. Der Mann fühlt sich wiederum unbeobachtet. Er schreit wiederum, beschimpft den Hund, packt ihn am Hals, zerrt ihn in das Haus gegenüber, das nun wieder hell erleuchtet ist. Nun zerrt er ihn die Stufen hinauf. In seine Wohnung.
Dann ist es dunkel. Und ruhig.
Ich gehe zu Bett.
Ich schlafe lange nicht ein.
Das war vor einigen Wochen.
Heute sah ich sie wieder. Mann und Hund. Sie kamen mir entgegen. Der Mann grüßte freundlich.
Ich schaute den Hund an. Er schaute mich an. „Was schaust du so, was willst du? Das ist nicht so leicht, einfach wegzulaufen. Du stellst dir das einfach vor. Ich wäre doch dumm. Ich habe ja alles. Ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett, genug zu Fressen. Und dieser eine Vorfall. Was ist das schon? Einmal ist kein Mal. Ich bin selber schuld. Ich hätte nicht weglaufen sollen. Dann wäre das alles nicht passiert. Man muss sich anpassen im Leben. Dann hat man es gut. Lass mich einfach in Ruhe, ja? Schau nicht so. Und du hältst deinen Mund. Das geht dich nichts an. Misch dich nicht ein.“
Natürlich halte ich meinen Mund. Es geht mich nichts an.

In 20 Jahren wirst du mehr enttäuscht sein über die Dinge, die du nicht getan hast, als über die Dinge, die du getan hast.
-Mark Twain-

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