Montag, Mai 08, 2006

ich gestehe !

Es ist Zeit für ein Geständnis.
Ich habe zwanghafte Tendenzen.
Ich mache keine Dinge, die mich selbst oder andere gefährden, ich stelle auch die Tassen nicht so in den Schrank, dass die Henkel alle nach rechts schauen. Oder links.
Aber es gibt doch einige Dinge, die ich genau so und nicht anders machen kann.
Das kennt ja jeder aus seiner Kindheit. Beim nach Hause gehen von der Schule ja nicht auf die Ritze zwischen den Bordsteinen zu treten. Falls es dir doch passiert, gibt es zum Mittagessen Kohlsprossen.
Ich mach das heute auch noch. Aber nur wenn ich Stöckelschuhe trage. Da trete ich dann genau auf den Kopfstein des Kopfsteinpflasters und ja nicht in die Ritze. Falls es doch passiert, gibt es zwar keine Kohlsprossen zum Mittagessen, aber der Stöckel ist hin.
Das Beispiel mit der Bordsteinkantenritze ist langweilig, ich weiß. Ich mache auch noch andere Dinge. Wenn ich mir nicht sicher bin, wie man ein Wort buchstabiert, schreibe ich das Wort mit dem Mittelfinger – und nur mit dem Mittelfinger – auf den Tisch. Einmal richtig und einmal falsch. Ich mache das ziemlich oft.
Als Kind war ich ziemlich zwanghaft. Ich war froh, dass niemand meine Gedanken lesen konnte.
Wir wohnten damals im dritten Stock. Die Holzstiegen hinauf waren eng und steil.
Und manchmal – ich kann mich an drei Mal erinnern – war ich der festen Meinung, ich könne fliegen.
Ich war mir sicher, wenn ich wirklich daran glaubte, dass ich fliegen könnte, würde das auch gelingen. Ich schloss die Augen, breitete meine Arme aus wie ein Engel oder Vogel und kugelte Hals über Kopf im Purzelbaum die ganze Stiege hinunter bis ins Parterre, wo meine Oma wohnte.
Ich war halb ohnmächtig und weinte. Meine Oma tröstete mich.
Heutzutage würde man mich vermutlich zum Therapeuten schleppen, der feststellen würde, das Kind leidet unter einem schweren Zwang und ist therapiebedürftig. In Folge würde man meinen Eltern nahe legen, sich einer Therapie zu unterziehen, in der festgestellt werden würde, dass das Kind die unbewussten Konflikte der Mutter väterlicherseits austrägt und durch die Verletzung sich selbst schweren Schaden zufügt und Spätfolgen psychischer wie physischer Art so sicher wären wie das Amen im Gebet. Ich wäre der Logopädin, der Schulpsychologin und der Beratungslehrerin vorgeführt worden. Die hätten im Zuge der Auseinandersetzung der familiären Situation festgestellt, das Kind würde die Aggression, die eigentlich gegen den Urgroßvater mütterlicherseits, der im hohen Alter an Schwerhörigkeit litt, gerichtet sei, in einem schweren, autoaggressiven Verhalten ausleben.
Damals war es so, dass Oma tröstete und Papa sagte: „Noch einmal, dann staubt’s.“
Ich machte es noch zweimal und es staubte nicht.
Ich war mir absolut sicher, könnte irgendjemand meine Gedanken lesen, ich würde noch am selben Tag in der Klapsmühle enden. Mittlerweile bin ich drauf gekommen, dass in uns allen der Wahnsinn steckt.
Einige lassen es halt raus.
Wie mein Schüler, der, wann immer er seinen Platz verließ, weil er aufs Klo oder zur Tafel gehen musste, ständig Lokomotiv-Geräusche von sich gab, dabei seine Arme nach vor streckte und beim Gehen die Beine am Boden schleifte, und dabei immer seine Schlapfen verlor. Er stellte das in der zweiten Stunde ein, als ich mich als Waggon an ihn dranhängte und ratternde Geräusche von mir gab.
Meine Freundin war genauso wahnsinnig wie ich.
Wir wohnten damals bei Frau Simić aus dem ehemaligen Jugoslawien.
Und wir passten unsere Sprache der ihrigen an.
Von da an waren wir nur mehr Lubica und Dragica.
Und wir redeten im gleichen Dialekt wie Frau Simić.
Ständig.
Im O-Bus, im Kaffeehaus.
Einmal sogar während der Vorlesung, als meine Freundin zu spät kam und sie sich beim Professor mit folgenden Worten entschuldigte: „ Bissal spat heit, Herr Fässa, Lubica hat Wäckär nicht gähärt.“
Wir konnten es nicht mehr abstellen.
Der Höhepunkt war, als wir vom Kontrolleur beim Schwarzfahren im O-Bus erwischt wurden.
Wir fingen an zu jammern, zeigten unsere abgelaufenen Monatskarten und überzeugten ihn, dass wir zwei arme junge Studentinnen aus Beograd seien und von nichts eine Ahnung hätten. „Nix wissen, nix gut, Karte.“
Der gute Mann stieg mit uns an der nächsten Haltestelle aus, gab uns eine Fahrkarte, legte uns nahe, einen Deutschkurs zu besuchen und erklärte uns, wo wir eine Monatskarte kaufen sollten.
Natürlich sprach er zum besseren Verständnis den Dialekt von Frau Simić, den ich mittlerweile abgelegt habe.
Dafür habe ich andere Eigenheiten entwickelt.
Ich kann es nicht ertragen, ein Bild zu sehen, das schief an der Wand hängt. Ich richte also jedes Bild gerade, sei es in der Zahnarztpraxis oder im Wartesaal des Bahnhofs.
Ich habe ständig eine Rolle Tixo und Reißnägel in der Handtasche für den Fall der Fälle.
Ich entferne Plakate, die auf der Holztafel vor dem Gemeindeamt hängen und kleb sie gerade auf.
Dabei ist es mir gleichgültig, ob es ein Plakat des Openair-Konzertes der Fetzentaler am kommenden Wochenende oder der Salvadore-Dali- Ausstellung im Rupertinum ist.
Wenn ich Briefe schreibe, lese ich laut mit.
Es kann auch sein, dass ich ein Wort mehrmals laut wiederhole, und wenn ich das mache, bekommt das Wort eine Eigendynamik. Es klingt auf einmal fremd. Es klingt wie ein Wort, das ich noch nie zuvor gehört habe. Es klingt anders, sogar seine Bedeutung ändert sich. Obwohl ich das Wort immer gleich ausspreche.
Ich weiß nicht, warum ich das tue, halt so einfach, halt so einfach, halt so einfach.
Ich sollte all diese Dinge geheim halten, ich weiß.
Ich wirke ja ganz normal auf andere Leute.
Es kann sein, dass ich zum Außenseiter werde, wenn jemand von meinen Zwängen erfährt.
Es kann sein, dass meine Familie und meine Freunde jeglichen Respekt vor mir verlieren, wenn sie wissen, wie viel Energie ich für all die Marotten, dich ich habe, verschwende.
Es wäre wunderbar, könnte ich all diese eigentümlichen Verhaltensweisen einfach ausschalten.
Aber – ich habe herausgefunden, ich bin mit all diesen verrückten Zwängen nicht allein auf dieser Welt!
Andere Leute sind in Bezug auf Marotten, zwanghaften Gedanken und Verhaltensweisen um keinen Deut besser dran.
Unlängst saß ich mit einigen Freunden gemütlich zusammen und war durch den guten Rotwein in redseliger Laune. Also gab ich mein bis dahin gut gehütetes Geheimnis preis.
Und fragte auch gleich nach welche Zwänge denn sie so hätten.
Das mit der Bordsteinkantenritze gab einer sofort zu.
Er tut das heut noch. Dabei trägt der keine high heels!
Als ich das Schreiben mit dem Mittelfinger erzählte, gab eine zu, sie würde das auch machen, aber in der Luft.
Und der dritte zählt die Zehen der Leute. Ständig und überall. Um sicherzugehen, dass auch fünf da sind.
Vermutlich hat er mal gehört, dass Marylin Monroe sechs Zehen hatte.
Ich meine, Zehen zu zählen, ist ziemlich ungewöhnlich.
Er macht das aber nur im Sommer und auch nur dann, wenn jemand Sandalen trägt.
Wir diskutierten noch ein wenig darüber und kamen überein, dass die Sache harmlos sei, so lang er nicht Leute zum Ausziehen von Socken und Schuhen drängt.
Als ich vorige Woche im Wartezimmer des Arztes saß, weil sich eine Schülerin im Turnunterricht den Fuß verstaucht hatte, schrieb ein Mann mittleren Alters, der neben mir saß, das Alphabet von vorne nach hinten auf.
Auf einen rosa Zettel.
Als er es von hinten nach vorn aufschrieb, kam mir das auch noch nicht sehr ungewöhnlich vor, es war ihm halt langweilig.
Aufmerksam wurde ich erst, als er mich fragte, welcher Buchstabe im Alphabet genau in der Mitte sei. Er wolle nämlich das Alphabet von der Mitte aus nach vorne und nach hinten schreiben.
Schwierig, sagte ich. Das Alphabet hat 26 Buchstaben, also gibt es keinen mittleren Buchstaben. Er schaute mich geschockt an und begann, das Alphabet laut vor sich aufzusagen, und dabei mittels seiner Finger mitzuzählen. Sie haben recht, rief er, sprang auf und verließ den Warteraum.
Der Arme.
Irgendwie ging er mir nicht aus dem Sinn und es tat mir leid, dass ich ihm nicht die Antwort geben konnte, die er erwartet hatte.
Am Abend nahm ich Zettel und Bleistift.
Schrieb das Alphabet auf
Und kam zum Schluss, dass es nicht einen mittleren Buchstaben gibt, sondern zwei.
abcdefghijkl mn opqrstuvwxyz
m und n sind die Mitte!
Wieso war mir das nicht früher eingefallen?
Ich fühlte mich wie eine Analphabetin, Analphabetin, Analphabetin.
Ich wiederhole dieses Wort nun nicht mehr, sonst wird mir noch unterstellt, ich sei banal und bin in der analen Phase stecken geblieben.
Du, hör mal, probier das aus.
Sag den Namen Annalena drei Mal hintereinander auf.
Bemerkst du diese Eigendynamik? Komisch, gell?

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