Samstag, September 13, 2008

liebes tagebuch


Jahrzehntelang haben Menschen, vor allem Mädchen, Tagebuch geführt.
Das Tagebuch konnte man verschließen und den Schlüssel versteckte man in der untersten Schublade mit der Unterwäsche.
Niemand hat dein Tagebuch gelesen, nur deine Mutter. Die täglichen Eintragungen begannen immer mit Liebes Tagebuch. Das Mädchen schrieb immer dann Tagebuch, wenn es Liebeskummer hatte.
Da stand dann: Peter liebt mich nicht mehr. Ich bin so traurig, dass ich sterben will. Dann kam noch ein Herz mit einem Pfeil dazu. Und das war es dann. Bis zur nächsten Eintragung, die mit Liebes Tagebuch begann. Und: Gut, dass ich mit Peter Schluss gemacht habe, ich liebe Andi. Aber Andi liebt mich nicht. Ich bin so traurig, dass ich sterben will. Und dann wieder Herz mit Pfeil.
Heute schreibt kein Mensch mehr Tagebuch, nicht mal Mädchen. Heute schreibt man Blog.
Blog schreiben nicht nur Mädchen, sondern auch Frauen und Männer. Und dein Blog liest jeder. Deine Mutter nicht. Die hat keinen Computer. Tausende von Leuten lesen dein Blog. Wenn du Glück hast. Weil ein Blog ist kein Tagebuch. Weil wenn das Blog ein Tagebuch wäre, dann würdest du es auch verschließen und es in der untersten Schublade deines Wäscheschrankes verstecken. Wo die verwaschenen Unterhosen liegen, die niemals ein Mann je sehen darf.
Millionen von Menschen schreiben Blogs, sie erzählen ihre intimsten Geheimnisse und sind überzeugt, dass niemand, der sie kennt, ihr Geschreibsel liest.
In Wirklichkeit leben neunzig Prozent der Leser deines Blogs im Umkreis von fünfzig Kilometern, zehn Prozent lesen dein Blog sogar an deinem Computer.
Schreibe also niemals im Büro und schreibe auch niemals über deine Arbeitskollegen. Und wenn du über sie schreibst, dann lobe sie in den höchsten Tönen.
Der Großteil der Blogger sind Teenager. Weibliche. Sie schreiben, wie es ist, sich mit Freunden zu treffen ohne je ihr Zimmer zu verlassen. Sie schreiben all das, was ihre Eltern nicht wissen dürfen, wie zum Beispiel: Ich weiß nicht, was ich heute schreiben soll.
Sehr oft entschuldigen sich Blogger bei ihren nicht vorhandenen Lesern wenn sie längere Zeit nicht gebloggt haben. In der Art wie du dich bei deiner Tante entschuldigst, die du alle drei Jahre besuchst, obwohl sie im selben Dorf wohnt wie du. Tante Hannelore, es tut mir so leid, dass ich schon so lang nicht mehr da war, aber ich habe so viel zu tun gehabt.
Es ist schon ganz gut, wenn man als Blogger nicht jeden Tag schreibt. Weil da könnten die Leser ja auf die Idee kommen, man habe sonst nichts zu tun als am Computer zu sitzen und zu schreiben. Sich rar zu machen ist keine schlechte Sache. Ich hab ja so ein bewegtes Leben derzeit, und ich bin derzeit kulturell und sozial so wahnsinnig aktiv und komm nicht zum Bloggen. Dabei hätte ich soviel zu erzählen und dann schreibt der Blogger über die wunderbare Kohlrabiernte in diesem Jahr und stellt ein Foto vom Riesenkohlrabi hinein und dann noch eins vom Urlaub in Lignano und erzählt, wie schön es war und wie lange der Stau war. Und wie gut, dass man wieder daheim ist.
Und dann gibt es drei Kommentare und die loben deinen Riesenkohlrabi und deinen Sprachwitz und sind froh, dass du wieder schreibt.
Tagebücher hatten keine Namen. Sie hießen einfach nur Tagebuch. Das meiner Freundin hieß Diary. Sie hatte einen Onkel in Etobicoke. Das liegt in Kanada. Gleich neben Pepsitown. Ich beneidete sie ein wenig. Aber dafür hatte mein Tagebuch einen goldenen Rand und ihres war nur rosa. Obwohl ich sie auch wegen des Rosa beneidete. Aber das wusste sie nicht. Rosa ist kitschig, sagte ich immer zu ihr. Mein rotes Tagebuch mit dem goldenen Rand hat was Königliches, sagte ich auch.
Blogs haben Namen und können auch rosa sein. Sogar rosa mit gold. Je ausgefallener und je verrückter der Name des Blogs ist, desto besser.
Amadea’s world ist nicht sehr ausgefallen. Aber mir fiel damals nur Salzburger Nockerl ein. Und das klingt nicht sehr ansprechend. Das klingt zäh und rund. Und ich will auf keinen Fall als zäh und rund rüberkommen. Und man will ja gut rüberkommen als Blogger.
Der größte Unterschied zu einem Tagebuch sind die Kommentare. Weil an ihnen siehst du, dass jemand dein Blog liest. Das heißt nun aber nicht, dass er alles liest. Es genügt wenn er die Überschrift liest und was Kluges oder Witziges kommentiert.
Der Grund für den Kommentar ist einzig und allein der, sein eigenes Blog bekannt zu machen.
Das gelingt aber nur wenn er in Blogs, die täglich an die hundert Kommentare haben, seinen Senf dazu gibt. Sonst ist das nur Arbeit und bringt nichts weil es keiner liest.
Unter keinen Umständen solltest du dich je mit einem anderen Blogger treffen. Das bringt nur Frust. Auf beiden Seiten. Und du findest dich garantiert in seinem Blog wieder.
Ich habe mich übrigens entschlossen, ein neues Blog zu beginnen. Eines, in dem ich Hunderte von Lesern haben werde. Eines, in dem ich meine schwarze Seite offenbaren werde. Eines, das die Blogwelt erschüttern wird. Und ich habe auch schon einen Namen – ein wunderbarer Name ist das.
Intime Bekenntnisse einer Lehrerin.
Und da bin ich dann ganz onanym.
Ganz!

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich verglich Kommentare machen bereits mit dem Anpinkeln von Laternen durch Hunde. Es geht nicht anders, wenn der Hund dort vorbeikommt, dann muß er einfach. Und dann wissn auch all die anderen Hunde, Hasso war hier. Mit Verlaup.

saxana hat gesagt…

Genau so ist es! Ich kann jetzt leider keinen längeren Kommentar schreiben,Du weißt ja warum.

Anonym hat gesagt…

Erwischt! Mein Tagebuch hieß Tabsi (das Erste zumindest) und ich hab immer gehofft, dass es posthum entdeckt und veröffentlicht wird.(Ich war ein morbides kleines Mädchen und hielt mich für eine Art Anne Frank ohne Krieg). Dank Blog, veröffentlich es jetzt selbst, das Problem ist, dass ich noch lebe. Und auch sonst haben Sie alles sehr fein durchschaut, Frau 'fessa. Wir sollten uns bald einmal treffen, wenn ich wieder mehr Zeit habe


An alle anderen, schauen Sie mal bei mir vorbei und lesen Sie meinen Blog...Sie dürfen auch kommentieren!

solo hat gesagt…

und wie siehts denn bei dir aus mit einer best of amadea veröffentlichung? da schlummern doch einige schmankerln hier drin rum... da du schon eine lesung hattest, sind ja einige geschichten auch schon fertig aufbereitet. ;)

also dieser eintrag ist so komplex, dass ich ihn mit einem gegeneintrag beantworten werde.

Anonym hat gesagt…

Ich habe den ganzen Beitrag gelesen, liebe Amadea, wie ich das fast immer tu. Der einzige Punkt, der mich momentan interessiert, ist das Tagebuch. Ich schreibe noch immer eines, nicht taeglich, manchmal mit einer gewissen Distanz, denn es ist ja wie eine Sucht, wie eine Zwangshandlung. Meist am Notebook. Manchmal mit der Hand, wenn ich unterwegs bin. Ich klebe auch Rechnungen, Zeitungsausschnitte, Einwickelpapiere usw. auf und stecke jeweils 2 Blaetter in eine Klarsichthuelle. Obwohl ich dabei wirklich „onanym“ bin, bemerke ich immer die Selbstzensur. Ohne diese habe ich nur bis 14 geschrieben. Danach habe ich alles verbrannt.

À bientôt! Audrii

PS: Ich muesste uebrigens keines der Blogs, die mich interessieren, anklicken. Ich habe auf Bloglines alle mir wichtigen abonniert und kann dort die neuen Eintraege der Reihe nach lesen.

amadea's world hat gesagt…

t.m. - auf den hund gekommen, sotosay.

ja, saxana :-)


katiza - salzburg, tomaselli links hinten am fenster. ich bin die mit dem roten tagebuch und dem goldenen rand.

solo - als buch geht nicht. weiß gar nicht, wie ich das anfangen sollte. aber - und das freut mich - im oktober hab ich zwei lesungen, eine mit einer band! und im frühjahr auch zwei.

es wird schon.


audrrii - das klingt schön! das würd ich gern sehen, das tagebuch. wie ein kaleidoskop. deine enkel werden sich freuen !