Samstag, Juni 10, 2006
the tramp
Da saß dieser Mann. Er rieb sich immer wieder die Augen.
Nahm dann und wann ein Taschentuch aus seinem Hosensack und schneuzte sich.
Es hatte aufgehört zu regnen. Ich saß vor dem Restaurant unter dem großen Kastanienbaum. Neben mir dieser Mann.
Manchmal schaute ich verstohlen zu ihm. Aber er schien mich ohnehin nicht zu bemerken. Er hatte nichts bei sich. Vor ihm am Tisch ein Glas Bier, an dem er dann und wann nippte.
Er saß gebückt da und starrte auf den Boden. So schien es mir jedenfalls. Die Sonne stach mir ins Gesicht und blendete mich, sodass ich nur seine Silhouette wahrnahm. Das Haarbüschel stand wirr von seinem Kopf ab.
Es saßen nur wenige Leute hier. Es hatte wohl niemand mit der Sonne gerechnet. Nur einer der Tische war besetzt mit einer Gruppe von jungen Leuten. Es waren Studenten. Ich erkannte es an ihrer Kleidung und der Art, wie sie redeten.
Ich sah den Mann an. Er war bestimmt ein Sandler. Ein Obachloser, ein Herumziehender. Aber er hatte keine Tasche bei sich. Auch keinen Rucksack. Das war eigenartig. Was tat er hier? Woher kam er? Er rieb sich wieder die Augen. Weinte er? Ich wollte nicht, dass er weint. Weil wenn er weinte, dann sollte ich zu ihm gehen und ihn fragen. Warum und so. Und dann würde er vielleicht noch mehr weinen und mir irgendwelche Dinge erzählen, dich ich gar nicht wissen wollte. Und vielleicht würde ich ihn dann nicht mehr loswerden. Und er würde mir dann sein ganzes Leben erzählen. Von seiner Frau, die ihn verlassen hat und von seinen Kindern. Und davon, wie ungerecht alles war. Mir wäre es lieber, er wäre nur traurig. Wenn einer ein Sandler ist, so steht es ihm ja zu, traurig zu sein.
Mir ist es unangenehm, wenn jemand in der Öffentlichkeit weint. Ich bin dann jedes Mal überfordert. Weil ich weiß dann nicht, wie ich reagieren soll. Ignorieren? Augenkontakt herstellen? In jedem Fall schwierig. Er könnte meinen, ich starre ihn an. Aus Neugier. Vielleicht will die Person ja auch nur kurz reden. Vielleicht nicht. Vielleicht will ich auch nicht. Was ist, wenn diese Person verzweifelt ist und nur darauf wartet, dass jemand nachfragt? Schwierig.
Ich erinnere mich, als ich vor vielen Jahren weinend im Zug saß. Und ich hätte mir gewünscht, dass mich jemand fragt, wie es mir geht. Aber kein Mensch fragte. Jeder schaute verlegen weg und tat so, als ob nichts sei.
Wieder nahm der Mann sein Taschentuch heraus und wischte sich Augen und Nase. Er seufzte, nahm sein Glas und machte einen tiefen Schluck.
Ich sollte nun wirklich zu ihm gehen und ihn fragen. Er ist vielleicht ganz allein auf dieser Welt und hat niemanden. Er ist vielleicht ganz fremd hier und hat kein Geld. Was ist, wenn er so verzweifelt ist und beschlossen hat, vor ein Auto zu laufen? Was ist, wenn er keine Bleibe hat für die Nacht?
Ich war sicher, dass er ein Tramp war. Ich war sicher, er lebte nicht hier. Salzburger Sandler sehen anders aus. Sie haben zumindest eine Tasche mit. Und sie sitzen nicht unter Kastanienbäumen und trinken Bier aus dem Glas.
Plötlich gähnte der Mann. Und sah mich kurz an. Er hatte keine Tränen in den Augen. Ich war erleichtert. Ich stand auf und wollte gehen. Da erhob er sich auch.
Hey, Fräulein. Haben Sie drei Euro?
Wieso gerade drei, fragte ich?
Ich brauch Wechselgeld zum Telefonieren.
Ihre Haare gefallen mir, sagte ich.
Ich ändere jede Woche die Farbe, sagte er. Damit die Welt bunter ist. Letzte Woche waren sie violett.
Wollen Sie ein Bild von mir machen? Er deutete auf meine Kamera.
Ich wollte ihn noch fragen, woher er kam. Aber er hatte sich schon umgedreht und ging Richtung Innenstadt.
Es hatte wieder zu regnen begonnen.
Ich ging zu meinem Auto. Für das Kino war es ohnehin zu spät.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
1 Kommentar:
Wonderful, wonderful photo.
Kommentar veröffentlichen