Sonntag, Mai 28, 2006

stein auf stein

Als Kind lebte ich am Fluss.
Der Fluss war Teil meines Lebens.
Meine Großmutter warnte mich ihm zu nahe zu kommen.
Es sei gefährlich.
Du kannst ausrutschen und er reißt dich mit. Und dann gibt es kein Entkommen, sagte sie.
Mit meinem Großvater ging ich manchmal hinunter zum Fluss. Über die großen, weißen Steine.
Die warm waren von der Sonne. Und auf denen sich Eidechsen räkelten.
Ganz nah am Fluss war der Sand weich und feucht.
Wenn man die Hand hineindrückte, bildete sich eine Mulde, die sich mit Wasser füllte.
Irgendwann begann ich, Flusssteine zu sammeln. Zuerst nur von dem Fluss, an dem ich wohnte, später auch von anderen.
Ich besaß Steine von vielen Flüssen der Umgebung.
Jeder Stein hatte seine Geschichte, die ich nicht kannte. Die mich beschäftigte.
Wie war der Stein in den Fluss gelangt?
Wo war er entstanden? Hatte ihn das Wasser dorthin getragen oder hatte ihn jemand hinein geworfen?
Wie groß war der Stein vor hundert Jahren gewesen? Oder vor tausend Jahren?
Wo wäre der Stein nun, wenn ich ihn nicht gefunden hätte?
Ich sammelte Steine, die mir besonders schienen. Besonders in ihrer Form, Farbe.
Da lagen sie nun. In meinem Zimmer, auf dem Regal. Irgendwann entstand die Idee, etwas zu machen aus all den Steinen.
Sie anordnen, aufkleben, ein Steinkunstwerk bauen.
Aber dann waren andere Dinge in meinem Leben wichtiger als diese Steine.
Und ich vergaß sie.
Nach Jahren kamen mir die Steine wieder in den Sinn.
Und ich wollte wieder zu sammeln beginnen. Dieses Mal in anderen Ländern, in anderen Städten.
Aber es war schwierig, hinunter zum Fluss zu gelangen. Es war unmöglich. Die Flüsse der Städte waren zugebaut mit Mauern und die Stellen, an denen man zum Wasser kam, waren verschmutzt und versandet.
Und irgendwann wusste ich nicht mehr, welcher Stein zu welchem Fluss gehörte. Und ich vergaß sie wieder.
Bis mir vor kurzem meine Mutter sagte, sie habe die Steine weggeworfen. Zurück in den Fluss.
Die Steine lagen Tausende von Jahren irgendwo. Dann kam ich und legte sie für kurze Zeit auf mein Regal. Dann wurden sie weggeworfen und nun werden sie wieder Tausende von Jahren irgendwo sein.
Vielleicht war es ihr Schicksal, nicht auf dem Regal zu bleiben und nicht Teil eines Steinkunstwerkes zu werden, das irgendwo am Dachboden herumsteht oder in der Mülltonne landet.
Vielleicht war es ihr Schicksal, in den Fluss zurückzukehren.

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