Warum hat meine Mutter immer noch die Sorge, ich ziehe mich nicht warm genug an?
Oder sie sagt, "Kind, du siehst erschöpft aus, schläfst du zuwenig? Du arbeitest ohnehin zu viel. Wie ich, Kind.“
„Unser Nachbar machte das anders“, wirft Papa ein.
„Der hat sich nicht die Hände dreckig gemacht. Wie er immer dahinging. Die Hände im Hosensack. Jedes Mal wenn ich ihn sah, hätte ich ihm einen Fußtritt geben können“, sagt Mama. „Und er hatte eine schöne Pension. Wir haben unser ganzes Leben nur hart gearbeitet. Der ging morgens ins Büro und kam um vier wieder heim. Der hat Zeit seines Lebens eine ruhige Kugel geschoben. Und wir? Nur geschuftet.“
„Er ist tot“, sage ich.
„Kochst du dir auch jeden Tag was Warmes? Isst du ordentlich?“
„Mama“, sage ich. „Bitte“. „Ich hör eh schon auf“, antwortet sie und schaut mich vorwurfsvoll an.
„Du bist immer in Eile wenn du kommst. Ich kenn an der Art wie du anläutest, dass du es bist. Ich kenn das einfach. Ich kenn es schon wie du in den Hof fährst. Nimm doch ein wenig Schlagobers. Das tut dir gut.“„Ja, Mama, danke“.
Ich sitze da wie eine Marionette. Ich rede wie eine Marionette.
Wieso ist es so, dass ich mit meinen Eltern nicht reden kann wie mit meinen Freunden? Wieso kann ich nicht einfach sagen, wie sehr mich diese Bevormundung und diese vorwurfsvollen Fragen nerven?
Dann würde es Streit geben. Dann kämen diese Sätze wie: „Du hast keine Ahnung, wie schlecht es uns ging, wie arm wir waren. Jeden Schilling drei Mal umgedreht. Du hast keine Ahnung, welche Schmerzen ich oft habe. Und wie viel Arbeit das ist mit dem Haus. Du hast keine Ahnung von all dem. Du bist undankbar“.
Das würde sie nicht sagen, das mit dem undankbar. Und dann würde sie weinen. Und ich würde mich schlecht fühlen und undankbar. Dass ich nicht bei ihnen lebe im Haus, dass ich all das nicht schätze, was sie für mich getan haben.
So sitze ich nur da, trinke den Kaffee, und esse vom Kuchen. Es erschreckt mich, dass meine Eltern alt sind. In zehn Jahren istwahrscheinlich einer von ihnen nicht mehr da. Oder beide.
Den Gedanken verdränge ich. Vorbei die Zeiten, in denen es, wann immer ich zu Besuch war, Streit gab.
Papa, der mich ständig kritisierte - in vielem.
Wie ich mich kleidete, wie ich ging, wie ich redete, wie ich meine Kinder erzog.
Papa ist alt geworden. Und weich. Vielleicht weise? Vielleicht lebt er aber nur in einer Welt, in der ich ihn nicht erreichen kann und die ich nicht verstehe? Er weint schnell. Er umarmt und küsst mich herzlich, wann immer ich komme. Er bedankt sich für den Besuch. Das erschreckt mich.
Mama hat immer den leidenden Gesichtsausdruck. Sie seufzt oft. Sie lacht selten. Sie singt nie mehr. Früher hat sie ständig gesungen. Früher, als ich noch klein war.
Sie singt schon lange nicht mehr. „Es ist nicht einfach mit Papa, er vergisst so viel“, sagt sie oft. Ich sehe all ihre Verletzungen, ihre Traurigkeit.
„Mit deiner Schwester kann ich besser reden als mit dir.“„Ja, Mama, ich weiß“, sage ich. Meine Schwester kann besser umgehen mit ihr. Ich bin zu direkt. Ich halte dieses Jammern so schlecht aus. Wenn sie mich fragt, sage ich ihr meine Meinung. Und das gefällt dir nicht.Ich erreiche sie nicht mit meinen Worten. Wir sind zu verschieden. Sie ist so ganz anders als ich. „Nimm noch etwas Kuchen, Kind“.
Der Blumenstrauß verstellt den Blick auf ihr Gesicht.
Ich wünsche mir, dass ich meine Kinder nie mit dem Blick anschaue, den ich manchmal bei meiner Mutter sehe.
Wenn wir es den Eltern schwer machen, wird etwas aus uns, sagte er.
Gerade diese so genannten schwierigen Kinder werden etwas.
Und gerade sie lieben ihre Eltern über alles, mehr als alle anderen. Aber das verstehen die Eltern nicht.
-Thomas Bernhard- Ein Kind
Wofür müssen Kinder ihren Eltern eigentlich dankbar sein?
Nicht das Kind ist verantwortlich für sein Dasein.
Kann es dafür, dass ein Mann und eine Frau den Beischlaf vollziehen, bei dem sie, meist wenigstens, nichts denken und nur ihre Lust haben?
Dafür Dankbarkeit fordern?
Oder dafür, dass diese Eltern dann das Gezeugte und Geborene ernähren?
Das ist ihre Pflicht, staatlich geregelt.
Mir ist es nie in den Sinn gekommen, von meinen Kindern Dankbarkeit zu verlangen. Wofür auch.
Vielleicht hätte ich sie um Verzeihung bitten müssen, dass ich sie einer bösen Zeit ausgesetzt habe.
-Luise Rinser- Den Wolf umarmen
Meine Eltern sind gestorben. Jetzt muß ich keine Angst mehr haben, daß meine Eltern sterben.
-Michael Schulte- Zitroneneis
Alfred konnte ihr erklären, daß es ein Elternirrtum sei zu meinen, Kinder hätten dankbar zu sein dafür, daß sie geboren worden sind. Genausogut könnten Kinder aus diesem Geborenwordensein den Eltern einen lebenslangen Vorwurf machen.
Wahrscheinlich sei es aber dem sogenannten Leben völlig egal, was Eltern und Kinder einander vorwürfen, es braucht Darsteller.
-Martin Walser-Die Verteidigung der Kindheit
Meine Eltern sind schon ein Fall für sich.
Hätten die mich großgezogen, wäre ich jetzt Alkoholiker oder Junkie oder Skinhead - aus Trotz. Ich glaube, diese Generation ist einfach nicht dazu gemacht, Nachwuchs zu haben.
Kinder sind nämlich verdammt konservativ, die wollen klare Verhältnisse, eindeutige Zustände, einen richtig intakten Familienstaat, den sie immer mal wieder aufmischen können.
Und keinen, der schon ein Trümmerfeld ist.
-Ralf Rothmann- Flieh, mein Freund
Sonntag, Mai 14, 2006
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1 Kommentar:
Eigentlich wollte ich ja nur kurz mal nachlesen, wie die Leute den Ship Song interpretieren. Jetzt hab ich über eine halbe Stunde in Deinem Blog "verschwendet". Und nicht mal eine Interpretation über den Ship Song gefunden. Aber dafür viele andere schöne Texte, die mich zum Nachdenken angeregt haben. Allen voran der hier. Danke!
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