Samstag, April 29, 2006

neighbourhood-watch

Als ich in London lebte, zog ich in eine Wohnung, von der du gut in die Wohnung im Wohnblock gegenüber schauen konntest. Du konntest am Morgen, während du frühstücktest, einfach den Kopf heben, auf die Küchenuhr in der Wohnung gegenüber schauen und wusstest, „So, nun ist es aber Zeit.“
Klar, dass ich nur ordentlich bekleidet mein Frühstück zu mir nahm.
Und dass ich die Vorhänge abends immer zugezogen hatte, und manchmal sogar am Tag.
Die Wohnung gegenüber mir besaß weder Rollläden noch Vorhänge. Und man schaut automatisch hinüber, auch wenn man gar nicht will. Es passiert einfach.
Das Problem war, dass man da drüben nicht nur die Küchenuhr sah, sondern auch den HAN.
So nannten wir ihn. Meine Nachbarin und ich. Mit Emine, die eine Türkin war, hatte ich mich gleich am ersten Tag angefreundet.
Der HAN. Der hässliche alte Nackte.
Den Namen hatte ich erfunden, nachdem ihn mir Emine beschrieben hatte. Hässlich, nackt und alt waren die ersten deutschen Wörter, die Emine von mir gelernt hatte.
Die deutschen Wörter, die sie schon kannte, waren Bratwurst, Sauerkraut, Blitzkrieg und Zeitgeist. HAN kam nun dazu.
Ich sah ihn eigentlich ziemlich lange nicht, den HAN.
Ich kannte ihn nur durch Emines Erzählungen, und das ziemlich gut. Aber es dauerte fast drei Monate, bevor ich ihn endlich sah.
Das klingt nun so, als ob ich darauf gewartet hätte, ihn zu sehen. Das nicht gerade, aber ich war enttäuscht, ich wollte ihn endlich sehen!
Ich kam mir wie eine Außenseiterin vor, die nicht mitreden konnte, wenn ich bei Emine zur Dinnerparty eingeladen war.
Das Hauptthema war immer HAN.
HAN und seine Vorliebe für Goldketterl. HAN und sein Brusthaar. HAN und sein behaarter Hintern. HAN und seine Vorliebe für baked beans.
Und dann passierte es.
Ich hatte Spinat-Ricotta-Canneloni gekocht, saß am Tisch und hatte gerade begonnen, zu essen, als ich den Kopf hob und nicht die Küchenuhr gegenüber sah.
Nein! Ich sah HAN!
Im weißen, gerippten Unterleiberl. Und untenherum nix. Gar nix.
Mir blieb der Cannelone im Mund stecken bzw. zwischen den Lippen hängen.
Mein Appetit war wie weggeblasen.
Ich hatte keinen Hunger mehr. Mir war fast schlecht, so als ob ich zu viel gegessen hätte.
Dieses Völlegefühl und diese Appetitlosigkeit dauerten den ganzen Tag an.

Also, all ihr lieben Frauen, die Ihr abnehmen wollt!
Schafft euch einen HAN an. Ein HAN ist wirksamer als ein personal trainer.
Zieht in einen Wohnblock. Vergesst die schöne Aussicht auf Berge, Kirchturmspitzen und Parks.
Sucht euch eine Wohnung gegenüber eines Wohnblocks, der vom Keller bis zum Dach verglast ist. Erkundigt euch, in welcher Wohnung ein HAN lebt und zieht gegenüber ein.
Stellt den Esstisch so hin, dass ihr die Wohnung gegenüber gut einsehen könnt.
In drei Monaten habt ihr 10 Kilo abgenommen. Garantiert!
Und das ganz einfach! Keine langwierigen, komplizierten Diäten!
Ganz einfach abnehmen ohne einen Groschen zu bezahlen!

HAN beschäftigte mich noch lange.
Und ich kam drauf, dass HAN kein Exhibitionist war. Nein, ganz im Gegenteil!
Er war ein wacher, aufmerksamer Londoner resident.
Das wurde mir bewusst, als ich die Wohnung verkaufte und mich der Makler fragte, „Is this a neighbourhood-area?“
Und ich konnte mit Stolz und Überzeugung sagen, „Yes, it is, sir!“

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