Meine Mutter hat sich entschlossen, schwimmen zu lernen.
Sie las die Anzeige in der Gemeindezeitung.
„Hör mal, Kind", sagte sie.„ Die Gemeinde schreibt einen Schwimmkurs für Senioren aus. Gratis. Ich glaube, ich lerne schwimmen. Was hältst du davon?“
„Gute Idee, Mama“, sagte ich. „Hast du einen Badeanzug?"
Sie hatte keinen.
Also kauften wir einen. Das dauerte ein wenig.
Der eine war ihr zu tief ausgeschnitten, der andere zu konservativ – das ist für alte Frauen – meinte sie. Sie ist dreiundsiebzig. Der dritte war am Bein zu hoch angeschnitten.
Endlich fanden wir einen. Azurblau. Mit weißen Trägern.
„Das bringt meine Bräune gut zur Geltung“, meinte sie.
„Weißt du“, sagte sie, „das ist doch eine Chance für mich, Toll. Oder? Einmal wäre es eh schon gefährlich gewesen. Vor einigen Jahren. Ich wurde auf einmal so schwindlig. Ich ging gerade am Seekanal entlang. Stell dir vor, ich wäre da hineingefallen. Und dann wäre ich jämmerlich ertrunken. Und niemand hätte was bemerkt.“
„Wenn ich schwimmen kann…“ Sie stockte und schien nachzudenken. Vielleicht kam ihr der Gedanke, dass, wenn sie halb ohnmächtig in den Kanal fiele, ihr das Schwimmen auch nichts nützen würde. Ich sagte nichts.
So waren wir am Samstag pünktlich um neun Uhr im Hallenbad.
Acht Schwimmwillige waren da. Alles Männer. Ich setzte mich an einen Tisch vor dem Buffet und sah zu.
Unter den acht Männern war ein sehr Dicker, ein weiterer war klein wie ein Zwerg, und einer hatte einen Buckel. Die anderen hatten keinerlei Auffälligkeiten, einer jedoch schien ein Glasauge zu haben. Er schielte irgendwie. Sie waren alle um die achtzig und standen gut gelaunt in Reih und Glied da. Meine Mutter sah in ihrer Gesellschaft aus wie eine Filmdiva in ihrem blauen Badeanzug mit den weißen Trägern.
Sie winkte mir zu. Strahlend.
Die Schwimmlehrerin trat auf. Schwarzer Badeanzug, rote Badehaube, ein Pfeiferl umgehängt.
Der Unterricht begann.
Zuerst mussten sich alle auf den Bauch legen und Brustschwimmen üben.
Die Schwimmlehrerin machte es ihnen vor. „Schön Arme und Beine in die Luft. Bewegt euch wie ein Frosch, Kopf hoch. Langsam einatmen, langsam ausatmen. Konzentriert euch.“
Alle bewegten brav Arme und Beine. Sie sahen alle aus wie Frösche.
Ich musste mich zusammennehmen, nicht zu lachen, als ich den dicken Mann beobachtete. Er balancierte auf seinem Bauch, dann und wann kippte er nach vor oder nach hinten und einige Male sah es aus, als ob er nun gleich auf den Mann mit dem Glasauge fallen würde. Der rückte nach einigen Minuten von ihm ab. Er hatte wohl Angst, bei einem Zusammenstoß könnte ihm sein Auge abhanden kommen.
Die Schwimmlehrerin hatte das gesehen.
Sie sagte zum Dicken, er solle ganz nah zur Wand gehen, damit er nicht immer umkippte. Er tat wie ihm geheißen, sie war raus gegangen und kam gleich darauf mit zwei Medizinbällen zurück, die sie auf die nicht der Wand zugekehrten Seite des dicken Mannes platzierte.
Der Mann mit dem Buckel schien einen Sinn für hintergründigen Humor zu haben. Er sagte zur Schwimmlehrerin, er sei froh, dass sie nun nicht das Rückenschwimmen übten, sonst würde es ihm so gehen wie dem Dicken mit seinem Bauch.
Meine Mutter hielt sich fünf Minuten ganz gut und strampelte mit erhobenem Kopf brav mit Armen und Beinen. Aber dann war es vorbei. „Ich kann nicht mehr, Fräulein“, rief sie vollkommen außer Atem.
„Ich weiß, das Trockentraining ist anstrengend“, sagte diese. „Wenn wir dann im Wasser sind, ist das ein Kinderspiel.“
Gleich darauf begaben sich alle ins Wasser.
In diesem Moment sagte der dicke Mann, er müsse dringend auf die Toilette. Und schon war er weg.
Die Gruppe stieg die Stufen hinunter in den Pool. Kaum hatte der Zwerg die dritte Stufe erreicht, war er verschwunden. Abgesoffen. Gleich darauf tauchte er wieder auf, und plantschte in Panik wild herum.
Die Schwimmlehrerin schlug ihm vor, etwas zu warten, sie müsse nachdenken. Sie habe noch niemals jemanden schwimmen gelehrt, der kleiner ist als das Wasser hoch im Kinderbecken.
Der Dicke war von der Toilette zurückgekehrt.
Wusste er es nicht oder machte er es absichtlich? Er schien nicht bemerkt zu haben, dass alle anderen Schwimmschüler via Poolstufen ins Wasser gegangen waren.
Jedenfalls nahm er Anlauf und sprang in den Pool.
Eine Tsunami-Welle unglaublicher Kraft und Geschwindigkeit begrub die Schwimmwilligen unter sich.
Innerhalb kürzester Zeit glich der ruhige Pool einem sturmgepeitschten Gewässer.
Man hörte verzweifelte Schreie, Gurgeln, man sah Köpfe untertauchen und wieder auftauchen, Haarbüschel an der Wasseroberfläche erscheinen und wieder verschwinden, Arme und Beine kurz aufblitzen, dann wieder wegtauchen.
Mit einem Satz sprang ich in den Pool.
Suchte nach dem blauen Badeanzug. Endlich sah ich einen Arm mit einem weißen Träger auftauchen, dann kurz darauf Mamas Kopf, Gesicht verzerrt, Mund nach Luft schnappend.
„Mama, beruhige dich“. Ich zerrte sie hoch und sah zu, dass sie auf die Beine kam.
Sie war in Panik. „Meine Augen, schrie sie, „meine Augen. Ich bin blind!“
Ich führte meine blinde Mama langsam die Stufen hinauf und setzte sie auf einen Sessel.
Inzwischen hatten Schwimmlehrerin und andere Badegäste den Rest der Schwimmschüler gerettet. Alle lagen alle schnaufend und hustend auf dem Boden.
„Meine Augen, meine Augen“, jammerte Mama immer noch. „Hör auf, zu reiben. Das wird dann noch schlimmer.“ Sie hörte nicht und rieb ihre Augen immer wieder ohne Unterlass.
Nach einigen Minuten sah sie nicht mehr aus wie eine Filmdiva sondern wie die Hauptdarstellerin in einem Horrorfilm.
Fortan ging meine Mutter nicht mehr zum Schwimmkurs.
Aber unlängst meinte sie: „Hast du gelesen? Die Gemeinde hat einen Tauchkurs für Senioren ausgeschrieben. Gratis. Ich glaube, ich lerne tauchen. Das ist einfacher als schwimmen. Weil da hast ja eine Maske vorm Gsicht und das Chlorwasser kommt dir nicht in die Augen.“
„Gute Idee, Mama“, sagte ich. „Morgen kaufen wir einen Taucheranzug.“
Donnerstag, Juni 22, 2006
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2 Kommentare:
Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie amüsiert ich über den Bericht des Schwimmunterrichts bin.
Ich bin heute das erste Mal auf deine Seite gekommen und amüsiere mich bestens. Toller Humor, witzige Schreibweise - weiter so, eine weitere regelmäßige Leserin ist dir sicher!
Danke, liebe Karina - Freut mich sehr, wieder eine Leserin gewonnen zu haben.
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